Am vergangenen Freitagnachmittag besuchte der EU-Kommissionsbeamte Dr. Martin Bohle unser Gymnasium, um den Schülerinnen und Schülern der Q2 die EU näher zu bringen und ihnen Fragen rund um die Europäische Union zu beantworten. Herr Bohle hat selbst 1973 an unserer Schule das Abitur gemacht und kommt seit 2007 jedes Jahr für den Europa-Nachmittag zurück.
In seinem Vortrag schilderte er seine berufliche Laufbahn, die ihn von der Ozeanographie zur Generaldirektion für Innovation und Forschung in der EU-Kommission führte. Dass sein Beruf eine Schnittstelle zwischen politischen Entscheidungen, Wissenschaft und verantwortungsvoller Verwaltung sei, schätzte er besonders.
Das mehrsprachige Arbeiten in den drei Hauptverwaltungssprachen der EU – Englisch, Deutsch und Französisch – empfand Herr Bohle als anregende Herausforderung, wenngleich er und seine Kollegen nach so vielen Jahren Berufserfahrung kaum bemerken würden, wenn sie die Sprache wechselten.
Wiederholt betonte Herr Bohle, dass die EU etwas vollkommen Neues sei; kein Bundesstaat, kein Staatenbund und auch kein Superstaat. Dadurch zeichne sich die historische Entwicklung auch nicht als linearer Weg, sondern als Serpentine ab. Nichtsdestotrotz zeige sich eine klare Entwicklung: „Als ich in der EU angefangen habe, war das EU-Parlament eine nachrangige Institution, wo man drittrangige Politiker parkte. Mittlerweile hat sich dies so geändert, dass das Parlament echte Arbeit leisten kann.“
In diesem Zusammenhang erklärte er auch die lange Dauer von Planungsprozessen. Viele unterschiedliche Fähigkeiten, Standpunkte und Mittel müssten auf einen Nenner gebracht werden und das brauche eben Zeit.
Außerdem hielt Herr Bohle fest, dass die EU mit nur etwa 500 Millionen Einwohnern im weltweiten Vergleich eher klein abschneidet. Die EU sei deshalb aber nicht unbedeutend: „Wenn wir eine Rolle spielen wollen, dann machen wir das nicht über unsere Zahl, sondern über unsere Fähigkeiten.“
Auf großes Interesse stießen die sogenannten Konsultationen, also Bürgerbefragungen der EU-Kommission über neue Gesetzesvorschläge, an denen alle EU-Bürger über die Website der Europäischen Kommission teilnehmen können. Obwohl Herr Bohle die breite Medienpräsenz der EU unterstrich, waren diese Konsultationen den meisten unbekannt. Umso mehr Bedeutung hat daher sein Appell, sich politisch zu informieren.
Auf die Frage nach der weiteren Entwicklung des Brexit, vermutete Herr Bohle eine Fristverlängerung für Großbritannien, damit das Land sich besser intern abstimmen könne. Seiner Meinung nach stelle die Möglichkeit, die EU verlassen zu können, eine demokratische Errungenschaft dar und beweise die demokratische Reife der EU. 2016 hatte er noch auf die Frage nach dem Brexit geantwortet: „Freiwillig werden wir sie nicht gehen lassen!“ So können sich Ansichten ändern.
Ob die EU einmal zu den Vereinigten Staaten von Europa würde und welche Zukunftsperspektive er für die EU sehe, fragten die Schülerinnen und Schüler. Die Vereinigten Staaten von Europa sehe er nicht. Das Konzept des Nationalstaats sei ein Auslaufmodell, wenngleich es zum vorherigen Zustand, dem Feudalismus, eine eindeutige Errungenschaft darstelle. Stattdessen erwartet der Kommissionsbeamte weichere Übergänge zwischen den einzelnen Nationen, ein schrittweises „Zusammenwachsen“ Europas und auch neue Mitglieder, wie Norwegen oder Island.
Die Erweiterung der EU über die kontinentalen Grenzen Europas hinaus hielt Herr Bohle für politisch nicht realisierbar. Die Unterschiede seien einfach zu groß. Dies heiße jedoch nicht, dass keine Kooperation möglich sei, betonte er.
Heutzutage gebe es jedoch auch innerhalb der EU noch relativ große Unterschiede, wie die gefährdete Gewaltenteilung in Polen oder die Oppositionsbekämpfung in Rumänien. Bei seinem Arbeitsweg bemerke er deutliche Verkehrsschwankungen beim Überqueren innereuropäischer Grenzen. Dies zeige seiner Meinung nach, dass grundsätzlich eher im eignen Land eingekauft oder die Freizeit gestaltet wird.
Interessant fand Herr Bohle den aktuellen Freundschaftsvertag zwischen Deutschland und Frankreich, sollte man doch meinen, dass so etwas in Zeiten der EU nicht notwendig sei. Doch offenbar braucht die EU dieses Signal des Zusammenhalts, damit sich neben Großbritannien nicht noch weitere Länder zum Austritt entschließen.
Kritisch bemerkte er außerdem, dass Europa nur durch die Ausbeutung der restlichen Welt so reich geworden sei. Diese Zeiten der europäischen Vorherrschaft seien nun vorbei und Europa müsse sich neuen Herausforderungen und auch seiner Verantwortung gegenüber der globalen Gerechtigkeit stellen. Der Druck auf die EU würde in Zukunft weiter zunehmen, auch wegen des Klimawandels und der Wirtschaftskonkurrenz gegenüber China und den USA.
Herr Bohle sieht die EU aber auch als Friedensprojekt, denn starke, wechselseitige Beziehungen, insbesondere im wirtschaftlichen Bereich, machen einen Krieg sehr unattraktiv. „Irgendwie muss man mit den Nachbarn zurechtkommen, sie gehen nun mal nicht weg“, scherzte er und führte Finnland als Erfolgsmodell an.
Den Euro schätzte er auf Nachfrage als ein wichtiges Instrument, das vieles vereinfacht habe, ein europäisches Symbol und als sehr beständig ein. So sei der Euro immerhin die dritte Reservewährung.
Abschließend bedankten sich die Schülerinnen und Schüler der Q2 mit viel Applaus bei Herrn Bohle für den aufschlussreichen Nachmittag.
Mona Zachau, Q2